Listenart | städtische Denkmäler |
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Listennummer | 537 |
Baujahr | 1925 / 1929 |
Eingetragen seit | 25.11.2019 |
Flur / Flurstück | 62/164 |
Adresse |
Hühnermarkt 16
41751 Viersen |
Entwurf: Fritz Fremerey / Hoolmans & Opgenoorth
Beschreibung
Das Gebäude Hühnermarkt 16 wurde zwischen 1925 und 1929 errichtet. Es befindet sich mitten im Ortskern von Dülken an einer engen, schräg verlaufenden Gasse, beidseitig eingebaut in eine geschlossene Reihe von Wohn- und Geschäftshäusern. Zuvor stand an seiner Stelle ein Lagerhaus der Firma Erben Clemens. 1925 wurde es im Auftrag von „Frau A. Hoogen und Kinder“ durch den Architekten Fritz Fremerey als Wohn- und Geschäftshaus errichtet, wobei laut Baubeschreibung Teile des Mauerwerks der Straßenfront, Grundmauern und Keller des Vorgängerbaus wiederverwendet wurden. Das Haus wurde zunächst wohl nur provisorisch fertiggestellt und von Fremerey selbst als Büro und Wohnung genutzt. Nach dessen Fortzug aus Dülken wurde es 1929 nach Plänen des Dülkener Baugeschäftes Hoolmans & Opgennorth endgültig fertiggestellt, indem es nun außen und innen verputzt und das Erdgeschoss verändert wurde (Vergrößerung des Schaufensters; Einbringen eines zweiten, gesonderten Eingangs für das Ladengeschäft).
Es handelt sich um ein dreigeschossiges, in der Fassade 8 Meter mit drei Fensterachsen breites Haus, das im Gegensatz zu seiner Nachbarbebauung giebelständig angeordnet ist. Auffallendstes Merkmal der Straßenansicht ist der sanft gebogene Giebelverlauf, dessen Linien scharfkantig den Baukörper nach oben abschließen. In der Giebelspitze ist ein flaches Thermenfenster angeordnet, wie die übrigen, einfach hochrechteckigen Öffnungen ohne Rahmung in die auch ansonsten schmucklose Wand eingeschnitten. Ob die in der Bauzeichnung von 1925 eingetragene kleinteilige, geometrisch-dekorative Fenstersprossung ausgeführt wurde, ist nicht bekannt. Im 1929 neu gestalteten Erdgeschoss befindet sich mittig ein großes Schaufenster, rechts und links von je einem Eingang flankiert – der linke führt direkt in das Ladengeschäft, der rechte über einen Flur zum rückwärtig gelegenen Treppenhaus.
Der Baukörper hat eine unregelmäßige Grundfläche, insbesondere die Front zeigt sich im Grundriss stark abgeschrägt. Die Raumanordnung entspricht im Prinzip dem traditionellen Muster bei solchen Stadthäusern, mit am Ladenlokal vorbeiführendem Seitenflur, rückwärtig angeordnetem Treppenhaus und jeweils drei Zimmern pro Etage, wobei die Wohnräume aufgrund der gewerblichen Nutzung des Erdgeschosses auf die oberen Geschosse verteilt waren. Überraschend sind aber die außergewöhnlichen „expressionistischen“ Formen und Details, mit denen der Architekt den unregelmäßigen Grundriss punktuell aufnimmt und sogar steigert. Hierzu zählen vor allem spitzbogige Gratgewölbe, wohl Rabitzkonstruktionen, und spitzbogige Durchgänge sowie dreieckige Formen zum Beispiel bei Oberlichtern, aber auch die gezielte Abtrennung von kleinen dreieckigen Räumen an der spitzwinkligen Straßenfront der Obergeschosse. Auch die Treppe vermeidet wo möglich einfach gerade Linien, der Lauf selbst ist geschwungen, Anfänger und Brüstungsgeländer gebogen, die erste Trittstufe fünfeckig. Zum historischen Raumbild tragen ferner das original erhaltene Ladengeschäft mit Terrazzoboden, erhaltene Türen und hölzerne Wandverkleidungen sowie Einbaubeschränke bei, so dass insgesamt, in kleinem Format und auf engstem Raum, eine eigenwillige, gleichwohl zeittypische Innengestaltung anschaulich ist.
Ganz besonders bemerkenswert schließlich ist die Dachkonstruktion, die ja auch das Äußere mit der geschwungenen Dachlinie charakteristisch prägt (umgangssprachlich „Zeppelindach“ und ursprünglich gemäß Baubeschreibung mit Falzziegeln gedeckt). Es handelt sich nach der Ausführung des Architekten Fremerey um ein sogenanntes „Bohlenbinderdach ostdeutscher Konstruktion“ in Satteldachform. Es setzt sich zusammen aus gebogenen Bohlensparren, die durch ihre Biegung bzw. Spannung ein drucksteifes Gespärre ausbilden, das ohne zusätzliche Aussteifungen oder Stuhlkonstruktionen wie bei einem herkömmlichen Dach auskommen. Vorteile sind vor allem die Materialersparnis und ein stützenloser hoher Dachraum. Der vom Architekten gebrauchte Ausdruck „ostdeutscher Konstruktion“ verweist darauf, dass diese spezielle und formal markante Bauweise insbesondere in der sogenannten „Preußischen Landbaukunst“ Ende des 18. / Anfang des 19. Jahrhunderts propagiert und verwendet wurde, eng verbunden mit dem Namen des berühmten Baurates und Architekten David Gilly und dessen Buch „Handbuch der Landbaukunst“ (1798). In den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erlebte diese Bauweise wegen ihrer Spareigenschaften vor allem im Kleinwohnungs- und Siedlungsbau noch einmal eine kleine Blüte. Im Raum Viersen entstanden in den 1920er Jahren vergleichsweise zahlreiche Bohlenbinderdach-Häuser, insbesondere in Viersen selbst, wo das städtische Bauamt diese Bauweise im Kleinwohnungs- und Siedlungsbau einsetzte (z.B. Aachener Weg; Immelnbusch; Zweitorstraße). Äußerlich verwandt, konstruktiv aber anders ist auch die sogenannte Zollinger-Bauweise, die ebenfalls stützenlose gebogene Dachformen ausbildet, jedoch keine Sparren-, sondern eine flächige Lamellen-Bauweise darstellt.
Denkmalwertbegründung
Bedeutung für Viersen
Der Architekt und erste Nutzer des Hauses, Fritz Fremerey, wohnte und wirkte nur kurze Zeit in Dülken, hinterließ hier und in der näheren Umgebung aber bemerkenswerte, unkonventionelle Bauten, die sicherlich auch von seinem eigenen Gestaltungsanspruch zeugen. Seit 2000 in die Denkmalliste eingetragen ist das 1926 für den Auktionator August Bohnen errichtete Haus Heinz-Luhnen-Straße 1, mit einer ungewöhnlichen Innenausstattung in „expressionistischen“ Formen. Eine solche, bis in den Raumzuschnitt reichende Durchgestaltung ist auch am Hühnermarkt erkennbar, hier noch gesteigert in der ungewöhnlichen Dachkonstruktion, die das Haus auch äußerlich deutlich aus seiner Nachbarschaft hervorhebt. Eine anders geartete, aber gleichermaßen ausdrucksstarke Dachform besitzt auch das von Fremerey in einer Anzeige publizierte Haus für „Dr. W.P.“ in Amern, das einen expressiv gelängten Spitzgiebel besitzt und an norddeutsche und holländische Vorbilder erinnert.
Fremerey war 1895 in Bremen als Sohn eines Tabakkaufmanns geboren worden. Er studierte Architektur in Darmstadt, einem Zentrum von Jugendstil und Kunstgewerbereform, und gelangte wohl durch seine aus Kempen gebürtige Frau in den 1920er Jahren ins Rheinland. Ca. 1925 bis 1927 ist er in Dülken nachweisbar, danach in Gemünd (Eifel), bevor er 1929/30 endgültig nach Gelsenkirchen übersiedelte, wo er bis zu seinem Tod 1975 lebte. In Gelsenkirchen hat er unter anderen mehrere um 1930/33 entstandene, als „extrem modern“ bezeichnete Häuser im Stil des Neuen Bauens gebaut, die in Expertenkreisen bekannt sind. Zeitgenossen beschrieben ihn außerdem als einen philosophischen Geist (in einem Zeitungsartikel zum 70. Geburtstag wird er „versponnen“ genannt), der in der katholischen Jugendbewegung des Quickborn-Kreises verwurzelt war (wo er auch seine Frau kennen lernte) und auch mit deren Kopf, dem Religionsphilosophen Romano Guardini, bekannt gewesen sei. Er verfasste wohl auch Schriften in dieser Richtung (betitelt zum Beispiel „Das Grundgesetz der Evolution des Geistes“), die jedoch unveröffentlicht blieben. Überliefert ist ferner, dass viele architektonische Entwürfe Fremereys ebenfalls als zu anspruchsvoll oder zu teuer nicht verwirklicht wurden. Auch patentierte Erfindungen, z.B. für ein „Vorratssilo, besonders für Thomasschlackenmahlanlagen“ 1942 sind dokumentiert.
In diesem Sinne, als Architekt, in dessen Schaffen typische Zeitströmungen des 20. Jahrhunderts deutlich werden und dessen – wenige – Bauten von einem entwickelten künstlerischen Anspruch zeugen, handelt es sich bei Fremerey um einen für die Forschung zur Architekturgeschichte interessanten und bedeutenden Architekten. Selbst bei relativ einfachen Bauaufgaben wie den Dülkener Beispielen ist erkennbar, dass von ihm durchdachte baukünstlerische Lösungen entwickelt wurden. Das Haus Hühnermerkt 16, in dem Fremerey selbst kurze Zeit lebte und arbeite, erzählt auch von der Kehrseite dieses Anspruchs, blieb es doch ausweislich der Akten während der Benutzung durch Fremerey in provisorischem Zustand (zum Beispiel innen und außen unverputzt), und diente ihm wohl auch nur kurzzeitig als Arbeitsstätte, da er, auf der Suche nach Arbeit, schon nach 1 bis 2 Jahren die Stadt wieder verließ.
Es handelt sich um ein wohl nicht zuletzt auch als „Visitenkarte“ konzipiertes Architektenhaus, das Werk eines der wenigen in den 1920er Jahren in Dülken ansässigen Architekten (im Adressbuch 1925 sind außer ihm nur die „alteingesessenen“ Albert Rangette und Rudolf Gormanns verzeichnet) und ein sehr qualitätvolles Zeugnis der regionalen Architekturgeschichte der 1920er Jahre. Es zeigt anschaulich eine individuelle Lösung, bei der im historischen Dülkener Ortskern an einer traditionellen Bauaufgabe neue oder ungewöhnliche Lösungen (Dachkonstruktionen; Innenausbau) verwirklicht wurden.
Das Haus Hühnermarkt 16 ist daher bedeutend für Städte und Siedlungen, hier Dülken (Stadt Viersen). Aus den beschriebenen Gründen besteht an seiner Erhaltung und Nutzung aus künstlerischen und wissenschaftlichen Gründen sowie, als integraler Bestandteil einer geschlossenen prägenden Häuserzeile im historischen Ortskern Dülkens, aus städtebaulichen Gründen ein öffentliches Interesse. Es handelt sich daher gemäß §2 (1) Denkmalschutzgesetz NRW um ein Baudenkmal.
Quellen
Bauakte der Stadt Viersen
Recherche und Materialsammlung zum Architekten Fritz Fremerey
Eckart Rüsch: Baukonstruktion zwischen Innovation und Scheitern. Verona, Langhans, Gilly und die Bohlendächer um 1800. Petersberg 1997.
Marco Kieser: Zollingerdächer der Zwanziger Jahre im Rheinland. In: Denkmalpflege im Rheinland 32 (2015), Seite 22-31.
Quellenrecherche
Reinhold Hörkens
Stand
Dr. Marco Kieser
Wissenschaftlicher Referent
LVR/ Amt für Denkmalpflege im Rheinland
27.08.2019