Listenart | öffentliche Denkmäler |
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Listennummer | 417 |
Baujahr | 1928 |
Eingetragen seit | 18.07.2001 |
Flur / Flurstück | 105/550 |
Adresse |
Gereonstraße 126
41747 Viersen |
Geschichte
Im namensgebenden Jahr 1848 wurde der Viersener Turnverein als erster seiner Art im (heutigen) Kreisgebiet gegründet. Da das Turnen im Sinne des "Turnvaters" Friedrich Ludwig Jahn durchaus auch nationalpolitische Anliegen vertrat, hatten die politischen Wirren 1848/49 jener Jahre auf Turnvereine jedoch erhebliche Auswirkungen. Nach Polizeiaufsicht und Hausdurchsuchungen löste sich auch in Viersen der neue Verein 1849 vorübergehend auf. Die Neugründung erfolgte erst 1858.
In den ersten Jahren dienten zunächst der Garten eines Vereinsmitglieds, dann der Hof eines Hotels und später der städtische Platz am Hoserkirchweg als Turnplätze. Ab 1879 durfte der Verein die neue Turnhalle der höheren Bürgerschule an der Wilhelmstraße mitbenutzen, wodurch das Vereinsleben einen spürbaren Aufschwung nahm. Nicht zuletzt auch das Vorbild des Rheydter TV, der schon seit 1884 eine eigene Halle besaß, beförderte jedoch den Wunsch nach einer vereinseigenen Turnhalle. 1901 wurde zu diesem Zweck eine Spendenaktion ins Leben gerufen, wodurch im Jahr darauf an der Heimbachstraße ein Turnplatz erworben werden konnte. "Als dann kurz vor dem Kriege die Stadt dem Turnplatze gegenüber eine großzügige Turn- und Festhalle errichtete, schien der Verein der Sorge der Errichtung einer eigenen Halle enthoben. Neue Schwierigkeiten zeigten sich, als in den Jahren nach dem Weltkriege die Turn- und Festhalle immer mehr für Theatervorstellungen und andere Veranstaltungen genutzt wurde, so dass der Turnbetrieb häufig darunter leiden musste. Der Saal der Gesellschaft Erholung, in den schließlich der Verein seine Übungsabende verlegen musste, entsprach so wenig den Anforderungen, die man füglich an eine Turnhalle stellen kann, dass der Verein den kühnen Wurf wagte, an den Bau einer vereinseigenen Halle heranzugehen." Der Bauantrag datiert vom 17.01.1927 (Grundsteinlegung 08.05.1927; Rohbauabnahme: 18.10.1927). "An seinem 80. Jubelfeste am 2. und 3. Juni 1928 wurde die mit einem Kostenaufwand von nahezu 150.000 Mark errichtete Turnhalle an der Gereonstraße ihrer Bestimmung übergeben." (Salzberger 1930, Seite 56)
Nach 1945 war die im Krieg weitgehend unbeschädigte Halle zunächst für mehrere Jahre als Lebensmittellager der Stadt und zur Unterbringung von Flüchtlingen beschlagnahmt. Einige substanzielle Umbauten (Einbau von Glasbausteinen; Dacherneuerung; Abriss eines Emporenbalkons in der Halle) erfolgten 1970.
Architekt der Halle war Heinrich Schroeren. Bereits 1924 hatte er an selber Stelle zwischen Gereonstraße und Freiheitsstraße ein Fabrikgebäude für die Rheinische Polster- und Ledermöbelfabrik Jos. Holtschoppen geplant. Die Bauantragsunterlagen für den Sheddachbau mit zwei Flügel-Vorbauten sind in der Bauakte erhalten. Offenbar ist es nicht zur Ausführung gekommen.
Beschreibung
Es handelt sich um ein im wesentlichen zweigeschossiges Backsteingebäude mit ziegelgedeckten Walmdächern auf verschiedenen Baukörpern, die zur Gesamtform zusammengesetzt sind. Vor den querrechteckigen Hallenbau sind zur Gereonstraße hin die notwendigen Neben- und Erschließungsräume angeordnet. Ihre Front ist zu einer über Sockel mit Klinkersteinen verblendeten Fassade ausgestaltet.
Zwei eingeschossige flachgedeckte Flügel fassen jeweils seitlich einen kleinen Eingangshof. Die fünfachsige Hauptfront prägt ein Mittelrisalit, in den unter einer flachen Dreiecksöffnung der über Treppenstufen erhöhte Haupteingang (zweiflüglige Holztür mit Fenstereinsätzen) eingenischt ist. Sämtliche Eckkanten dieser Fassade sind in Backstein quaderartig rustifiziert. Ein Dreiecksgiebel bekrönt den Mittelrisalit.
Da Vorbauten, Eckbauten und Turnhalle jeweils eigene Dächer bzw. voneinander abgesetzte Dachteile besitzen, prägt die differenzierte Dachlandschaft in besonderem Maße das Erscheinungsbild des entsprechend gegliederten Baukörpers. Ein auf einem Foto aus den 1920er Jahren erkennbarer Dachreiter über der Turnhalle ist heute nicht mehr vorhanden. Die Seitenwände sind in einfachem Backstein ohne Verklinkerung ausgeführt. Auf der wieder durch Lisenen belebten Rückseite befinden sich jüngere Anbauten. Fenster sind ohne Anpassung an die originalen Kreuzstock-Sprossenfenster erneuert.
Durch den Haupteingang und einen Windfang hindurch gelangt man im Inneren zunächst in einen "Wandelgang", der quer vor der dahinterliegenden Turnhalle angeordnet ist. Die Funktionen der Nebenräume haben sich z.T. gegenüber dem Entwurfsplan geändert, der Grundriss ist aber im wesentlichen erhalten. Am rechten Ende des Ganges führen einige Stufen zur Hausmeisterwohnung, an seiner linken Stirnseite befindet sich das Haupttreppenhaus. Dazwischen führen drei große zweiflügelige Türen in die Turnhalle. Originale Rahmenfüllungstüren und Türgewände sowie der Kunststeinfußboden vermitteln ein anschauliches historisches Raumbild. Die ebenfalls ursprünglich erhaltene Haupttreppe mit Steinstufen zeigt bemerkenswerte Eisengeländerstäbe mit zeittypischen abstrakten Schmuckformen.
Die Turnhalle besitzt eine feine klassizierende Wanddekoration aus Pilastern und Gesimsbändern sowie mehrfach gestuften Deckenkehlprofilen. Für die stützenfreie Überspannung der mit einer Rabitz-Spiegeldecke versehenen Halle wurde eine Eisenbinderkonstruktion eingebaut. In der vom Eingang aus gesehen rechten Schmalseite ist eine Bühne angeordnet, ihr gegenüber befand sich ursprünglich eine Galerie. An der vorderen Längsseite ragt mit beinah "expressionistischem" Gestus eine dreifach gezackte Empore in den Raum.
Zeitgenössisches Urteil
Die neue Turnhalle war einer der größten Neubauten der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, den "goldenen Jahren" der Weimarer Republik, in Viersen. Daher präsentierte die Stadt sie auch ausführlich in ihrer Selbstdarstellung im Rahmen der renommierten Buchreihe "Deutschlands Städtebau", wo sie ein Foto der Halle an den Anfang des Kapitels "Turnen, Spiel und Sport" stellen und die Baugeschichte ausführlich schildern ließ. Der Vorsitzende des Turnvereins, Ferdinand Salzberger, führt dort weiter aus: "Auf den stattlichen Bau mit seinen verschiedenen geschmackvoll ausgestatteten Räumen kann der VTV.48 mit Recht stolz sein, zählt die Halle doch mit zu den schönsten des ganzen Turnkreises. Reges Leben herrscht heute an den Übungsabenden der einzelnen Abteilungen. Es ist zu erwarten, dass die Halle für den Verein eine neue Anziehungskraft darstellt." Und weiter im zeittypischen nationalkonservativen Duktus, der u.a. auch über das damalige Selbstverständnis des Turnens Auskunft gibt: "Der Volksgemeinschaft scheint mir das zu frommen, geht doch die Arbeit der D.T. [Deutschen Turnerschaft] mehr in die Breite (...), während bei den meisten Sportvereinen nach Spitzenleistungen einzelner der Blick gerichtet ist. Wenn die Turner in der schönen Halle im Sinne Jahns den Körper stark und den Geist gesund pflegen, dann werden auch sie ihren Teil dazu beitragen, dass das deutsche Volk aus der durch den Weltkrieg und seine entsetzlichen Folgen hervorgerufenen tiefen Not sich herausarbeitet und im Kreise der Völker den ihm eigenen Platz sich erringt." (Seite 56)
Architekturgeschichtliche Würdigung und Denkmalwert
In der Art und Weise, wie hier einzelne Baukörper zu einer Gesamtform funktional differenziert zusammengefügt sind, erinnert die Turnhalle des VTV.48 ein wenig an die Viersener Festhalle, die der Turnverein ja bis zum Neubau auch mitbenutzen durfte und deren Raumprogramm ansatzweise vergleichbar ist. Die aufwändige Detail-Gestaltung der Festhalle konnte bei der etwa fünfzehn Jahre jüngeren Turnhalle selbstverständlich schon aus Kostengründen, aber auch, weil es sich hier nicht um einen solchen Renommierbau handelte, kein Vorbild sein. Dies zeigt sich z.B. in der Tatsache, dass die Fassade nur eine Klinkerverblendung erhielt und ansonsten einfaches Backsteinmauerwerk unverputzt belassen wurde. Die kubischen Baukörperteile sowie die abstrahierten klassizistischen Würdeformen (Giebel, Eckquaderung, Wandgliederung der Halle) erklären sich aus einer Anlehnung an die Baukunst "um 1800", wie sie seit etwa der Jahrhundertwende im traditionalistischen Bauen praktiziert wurde. Dabei handelt es sich je nach Bautyp um eine Verschmelzung klassizistischer, barocker und "Revolutionsarchitektur"-Formen. Gemessen an anderen, meist Schulen angegliederten Turnhallen ist diejenige in der Gereonstraße nicht nur bemerkenswert groß, ihre an klassischen Architektursprachen orientierte Gestaltung belegt ein über die reine Zweckerfüllung hinaus gehendes Anspruchsniveau.
Aus denkmalpflegerischer Sicht ist das noch in bemerkenswerter und seltener Geschlossenheit erhaltene Raumbild (Grundriss, Türen, Böden, Treppen, Wand- und Deckengestaltung in der Halle) festzuhalten. Die Störung des ebenfalls im wesentlichen erhaltenen Außenbaues durch die modernen Fenster und Anbauten ist demgegenüber geringer zu veranschlagen, so dass hier insgesamt ein noch ungewöhnlich anschauliches Zeugnis einer Turnhalle der zwanziger Jahre überliefert ist. Vergleichbar dem etwa zeitgleichen Postgebäude an der Freiheitsstraße setzt sie darüber hinaus die stattliche Zahl von Bauten der öffentlichen Daseinsfürsorge in Viersen fort, die u.a. mit Rathaus, div. Schulen, Stadtbad, Reichsbank, Festhalle, Generatorenhalle des E-Werks, Bauten der Wasserversorgung oder Bahnhof eine z.T. auch überregional bedeutende Denkmälergruppe bildet, die in besonders anschaulicher Dichte vom frühen städtischen Gemeinwesen Viersens zeugt.
Als Halle des größten Viersener Turnvereins, einer Bauaufgabe mit öffentlicher, allgemeiner Daseinsvorsorge dienender Funktion, in qualitativ beachtlicher Gestaltung ist das Gebäude Gereonstraße 126 bedeutend für Viersen. Da es als Zeugnis der Bauaufgabe und des Sportvereinswesens in den zwanziger Jahren im wesentlichen noch substanziell anschaulich erhalten ist, besteht an der Erhaltung und Nutzung aus wissenschaftlichen, insbesondere den beschriebenen architektur- und kulturgeschichtlichen Gründen ein öffentliches Interesse. Es handelt sich daher gemäß § 2 (1) Denkmalschutzgesetz NW um ein Baudenkmal.
Literatur
Ferdinand Salzberger: Turnen, Spiel und Sport. In: Viersen, Dülken, Süchteln.
Bearb.: Stadtbaurat Frielingsdorf, ( = Deutschlands Städtebau), 2. Auflage, Berlin 1930, Seite 54-56.
Viersener Turnverein 1848. 150 Jahre, Festschrift o.O. / o.J. (Viersen 1998).
Im Auftrag
Dr. Marco Kieser
17.11.2000