Kutscherhaus für Peter Kaiser

Baudenkmal Details
Listenart städtische Denkmäler
Listennummer 477
Baujahr 1903
Eingetragen seit 18.12.2007
Flur / Flurstück 100/458-459
Adresse
Dr. Carl-Schaub-Allee 1
41747 Viersen

Geschichte
Das ehemalige Kutscherhaus befindet sich versteckt auf einem Grundstück im Winkel zwischen Haupt- und Heierstraße, hinter dem Wohn- und Geschäftshaus Hauptstraße 137-139.
Laut Bauschein im Stadtarchiv Viersen wurde die „Remise mit Pferdestall" 1903 für den Bauherrn Peter Kaiser errichtet. Dieser besaß zu dieser Zeit das Wohnhaus Hauptstraße 135, dem das Kutscherhaus zugehörte. Es wurde im bzw. kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zerstört. Peter Kaiser war ein Bruder von Kommerzienrat Josef Kaiser. Nach dem Tod des Vaters Heinrich Kaiser 1890 leiteten die beiden einige Jahre zusammen die Firma Kaiser`s Kaffeegeschäft. 1906/07 ist Peter Kaiser wohl gestorben. Aus diesem Jahre sind Erbschaftsangelegenheiten in seiner Sache bekannt, und sein Besitz wird zwangsversteigert. Das Haus Hauptstraße 135 wird samt Grundstück und Kutscherhaus von der Stadt übernommen.
Die Geschichte dieses Anwesens ist jedoch mehr als mit Peter Kaiser mit der Industriellenfamilie Greef verbunden.
Friedrich Wilhelm Greef (1814-1900) gründete 1837 in seinem Geburtsort Süchteln eine Sammet- und Seidenmanufaktur. Später wechselte das Unternehmen nach Viersen und wurde dort zu einem der bedeutendsten Betriebe. Für die 1860er Jahre stellt Jochem Ulrich fest: „F.W. Greef stand mit 4000 bis 5000 Talern Gewerbeeinnahmen im Jahr einer Reihe der bedeutenderen Krefelder Seidenfabrikanten mit seinen Geschäftserträgen nicht nach" (S.46). Um 1880 gelang Greef die rechtzeitige energische Umstellung der Fabrikation auf mechanische Webstühle. „Greef wurde für eine Zeit führend in der Mechanisierung des Viersener Samt- und Seidengewerbes. Er allein hatte fast ein Drittel des Viersener Bestandes an Maschinenstühlen 1884 in seiner Fabrik stehen" (Ulrich S.67). Er engagierte sich auch über Viersen hinaus, so war er u. a. einer der drei Direktoren der Gladbacher Feuerversicherungs Aktiengesellschaft; 1865 war er einer von 12 Gründern der Viersener Actiengesellschaft für Spinnerei und Weberei und erster Vorsitzender des Verwaltungsrates (Ulrich S.56 u. 69). Wie seinerzeit selbstverständlich war er auch Stadtverordneter, 1888 Zweiter Beigeordneter der Stadt Viersen.
Ein herrschaftliches Wohnhaus für sich und seine Familie ließ Greef wohl in der 1860er Jahren in spätklassizistischen Formen an der Hauptstraße erbauen (die Angabe bei Ulrich S.262 - zwischen 1820 und 1847 - widerspricht den Angaben im Stadtbauplan von 1860). Um 1875 bereits entsteht an der Gladbacher Straße eine neue Villa für seinen Sohn Friedrich Wilhelm Greef jun., von der nur noch die zugehörige Allee, Wirtschaftsgebäude/Remisen und Gartengelände erhalten sind. Peter Kaiser erwarb das herrschaftliche Wohnhaus an der Hauptstraße wohl nach dem Tod von Friedrich Wilhelm Greef (1900). Nach der Zwangsversteigerung und dem Erwerb durch die Stadt zieht in dem Gebäude 1907 die Städtische Höhere Mädchenschule (ab 1910 Lyzeum) ein. Spätestens jetzt wird also auch hier eine für Viersen typische Entwicklung nachvollzogen, nämlich dass die ehemals an der Hauptstraße residierenden Unternehmer der frühen Industrialisierung Viersens nach und nach in Nebenstraßen oder weiter außerhalb liegende Lagen abwandern und sich die Hauptstraße im Verstädterungsprozess bis etwa 1910 zu einer Geschäftsstraße wandelt. Ulrich (S.293-95) hält dazu fest, das 1911 an der Hauptstraße aus der Schicht der finanzstarken Kaufleute allein noch die Witwe Preyer wohnte.
Das Kutscherhaus ist der letzte Zeuge dieses ehemals hochherrschaftlichen Anwesens.

Beschreibung
Das im Grunde zweigeschossige Gebäude ist im rechten Winkel zur Bebauung an der Hauptstraße angeordnet, so dass es mit einer Längsseite den ehemaligen Garten begleitet. Die Zuwegung erfolgte wohl schon immer so wie heute von der Heierstraße aus, zu der hin durch zwei kurze Flügel ein Hof ausgebildet ist.
Hinsichtlich der Fassadengestaltung zeigt das Kutscherhaus zwei Gesichter:
Zum Garten bietet sich eine klassizistische Gestaltung dar, mit hellem (weißen) Bänderputz und Lisenen. Zwei seitliche flache Dreiecks-Giebel lockern die Traufständigkeit auf. Giebelfläche und die darunterliegende Obergeschoss-Wandfläche sind jeweils durch ein großes Relief mit einer Reiterszene vor Landschaft geschmückt. Beide Reiter tragen antike Tracht, der rechte, sich im Ritt aufrecht zurückwendend, ist mit geschulterter Lanze dargestellt, der linke schwingt über Kopf eine Axt, während sein Pferd sich aufbäumt. Ob hier konkrete Szenen antiker Geschichte oder Mythologie wiedergegeben sind, muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt offen bleiben. Neben den unregelmäßig verteilten Fenster- und Türöffnungen akzentuiert eine niedrige Tränke die linke Hälfte der Gartenseite, überfangen von einem Rundbogen mit Glimmersteinen, die an Grottenarchitekturen der Gartenkunst erinnern. Durch die rechte Tür betritt man eine Halle mit Fliesenboden, Rundstütze und Unterzugdecke - wahrscheinlich der ehemalige Pferdestall.
Der zur Einfahrt gerichtete Hof zeigt eine ganz andere Fassadengestaltung, nämlich eine Backstein-Schaufachwerk-Gliederung in neubarocker Formensprache. Über einem backsteinernen Erdgeschoss ist das Obergeschoss überwiegend in der Art eines Mansarddaches verkleidet, nur im westlichen Flügel mit Fachwerk und einem in die Ecke gesetzten Erker ausgezeichnet. Dieser Flügel enthält einen Risalit mit einem großen, segmentbogig geöffneten Raum im Erdgeschoss, wohl die ehemalige Kutschenremise. Über ihr ist im Obergeschoss ein weiteres Relief mit bewegten Pferdeköpfen vor einem strahlenartig ausgestalteten Hintergrund angeordnet, darüber ein vierteiliges Rundbogenfenster. Ein geschweifter Giebel schließt den gestalterisch solcherart herausgehobenen Risalit ab. Auf allen drei Seiten wird das Erdgeschoss durch zu Zweier-, Dreier- oder Vierergruppen gekoppelte, hochrechteckige Fenster mit Segmentbogen gegliedert. Rechts ist in der hinteren Längswand die Vermauerung einer weiteren Toröffnung erkennbar, ehemals eventuell ein zweiter Wagenunterstand. Die Fenster im mansarddachartigen Obergeschoss sind als segmentbogige Dachgauben ausgeführt; der kurze östliche Flügel besitzt an ihrer Stelle ein Zwerchhaus mit flach geschweiftem Giebel.
Das Innere des Gebäudes präsentierte sich bei Besichtigung aufgrund langen Leerstandes in verwahrlostem Zustand. Wesentliche historische Elemente Ausstattungsstücke sind aber dennoch erhalten. Der Eingangsbereich des Erdgeschosses besitzt seinen ursprünglichen Fliesenboden und führt zur ebenfalls originalen einläufigen Treppe mit gedrechselten, z. T. kannelierten Stäben und entsprechendem schmuckvollen Anfangspfosten. Im Obergeschoss war ehemals wohl die Kutscherwohnung untergebracht. Außer Grundriss, alten Rahmenfüllungstüren, Wandschränken und einigen alten Fenstern (mit kleinteilig gesprossten Oberlichtern) ist in einem Zimmer auch noch eine hölzerne Wandvertäfelung erhalten.

Architekturgeschichtliche Würdigung
Die Bauaufgabe Kutscherhaus befand sich 1903 schon fast an ihrem Ende. Obwohl im „Handbuch der Architektur" noch 1913 dem Thema ein eigenes Kapitel gewidmet wurde, kann doch (von Sonderfällen abgesehen) spätestens nach dem Ersten Weltkrieg von einer Verdrängung durch die „Motorgarage" für Automobile ausgegangen werden.
Als Teil einer Gesamtanlage aus Wohnhaus, Garten/Hoffläche und anderen Wirtschaftsgebäuden war das Kutscherhaus eine herrschaftliche Bauaufgabe. Der Baukörper wurde dabei zumeist an historischen Vorbildern wie Remisen oder Wirtschaftsgebäuden von Gutsanlagen orientiert, häufig findet sich ganz oder teilweise Schaufachwerk als angemessene Kennzeichnung einer untergeordneten und zugleich im weiteren Sinne landwirtschaftlichen Nutzung (Pferdestall). In soweit entspricht die der Heierstraße zugewandte Hofseite des Kutscherhauses mit ihrer Mansarddachanlehnung, Erker und Zierfachwerk geläufigen anderen Beispielen aus dieser Zeit.
Äußerst ungewöhnlich sind jedoch die klassizistische Gestaltung der Gartenseite und vor allem die aufwendige Ausstattung mit Reiter- und Pferdereliefs. Möglicherweise ist die Fassadengestaltung auf ein Bemühen um Anpassung an das ebenfalls spätklassizistische Wohnhaus zurückzuführen (ein Foto der Gartenansicht der Villa in der u. a. Bauakte im Stadtarchiv Viersen). Die Reliefs zeugen eindeutig von herausragendem Gestaltungswillen und Anspruchsniveau der Bauherren auch bei dieser untergeordneten Bauaufgabe. Die stark plastisch herausgearbeiteten Reiter-Darstellungen lassen an Vorlagen der Renaissance denken; die Motive sind traditionell mit Herrschern und Kriegern verbundene Statussymbole, im profanen Umfeld einer Fabrikantenvilla zeugen sie von der Aneignung klassischer Ikonographie durch neue Oberschichten. Im Mittelpunkt steht aber natürlich das Pferd, was auf der „profaneren" Hofseite deutlich wird, deren Relief nur noch Pferdeköpfe ohne ikonographische Überhöhung zeigt. Im Gegenteil stehen diese dort allein vor einem strahlenkranzartigen Hintergrund, der ein wenig an gleichzeitige Strahlen- und Sonnendarstellungen aus symbolistischem oder gar lebensreformerischem Umfeld erinnert, hier jedoch nur dekorativen Charakter hat.
Das ehemalige Kutscherhaus des Anwesens Kaiser (ehemals Greef) ist, nach Zerstörung des zugehörigen Wohnhauses und z.B. auch des Hauses Preyer einer der letzten, wenn auch versteckten Reste jener Frühphase der städtischen Entwicklung Viersens Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts, als die Hauptstraße noch ein bevorzugtes Wohngebiet der neuen Unternehmer-Oberschicht war. Es zeugt zudem vom herrschaftlichen Lebensstil der Jahrhundertwende. Es ist daher bedeutend für Viersen. Wegen des im Wesentlichen originalen Erhaltungszustandes seiner qualitätvollen und teilweise ungewöhnlichen Gestaltung besteht an der Erhaltung und Nutzung aus wissenschaftlichen, hier architektur- und sozialgeschichtlichen Gründen ein öffentliches Interesse. Es ist daher ein Baudenkmal gemäß § 2 (1) Denkmalschutzgesetz.

Quelle
Stadtarchiv Viersen (Alt-Bauakte Hauptstraße 135);Nr. 2563: Ersteigerung des Anwesens Hauptstraße 135 durch die Stadt 1907

Literatur
Handbuch der Architektur IV, 3, I. 3. Aufl. 1913, S.38-55.
Jochem Ulrich: Industrie und Gesellschaft am Niederrhein. Köln 1986.
Artikel „Reiterdarstellung" in: Lexikon der Kunst, Bd. 6: R-Stad, Leipzig 1994, S.93-95.

Dr. Marco Kieser
Landschaftsverband Rheinland/ Rheinisches Amt für Denkmalpflege
05. Juli 2000